Wahnsindien - Der Reisebericht

Lukkullus in Kalimpong

Kalimpongs gigantisches Kino empfängt mit verschlossenen Türen. Dafür hat eine abseits davon liegende provisorische Holzbude sofort unsere volle Aufmerksamkeit. In dem Bretterverschlag türmen sich wahre Essensberge. Nicht vorstellbar, dass die kleine Alte, die uns erwartungsvoll ansieht, dies alles aufgebaut hat. Sie steht vor einer unüberschaubaren Menge an Schüsseln, Pfannen, Tellern und Brettchen. Auf den ersten Blick ist klar, dies alles wird jeden Moment unter der Last zusammenbrechen. Wir müssen helfen.

Leicht dahergeredet. Wo anfangen? Unsere Augen fahren hektisch von einer Leckerei zur nächsten. Salat- und Obstteller thronen über fertigen Gerichten. Erst mit Vitamine gesunden Willen antäuschen oder gleich ans Eingemachte? Den spärlichen Platz sollte man überlegt nutzen. Da hätten wir Kartoffeln in roten Curry oder in feiner goldbrauner Eikruste, gebacken, gedünstet, gebraten. Kleine ölglänzende Schnipsel erweisen sich als herzhafte Radieschen, orange leuchtende Eier erinnern an Ostern, panierte Auberginen, Tomaten, Blätter umrahmen Spargel, der mit Paprika und Schoten konkurriert. goettin auf seidentuch2

Solch Auswahl haben wir im Flachland noch nicht gesehen. Auch hier dürfen die obligatorischen Hülsenfrüchte nicht fehlen. Erbsen, Linsen, Bohnen in allen Varianten und in den schärfsten Soßen. Bis auf Eier und diverse Yogurtkreationen ein wahres Paradies für Veganer. Die Besonderheit: Das Essen ist kalt. Reis, Nudeln, die Soßen, alles. Ein Chapatiofen ist nicht zu entdecken. Manche Speisen bleiben für immer ein Rätsel, weil wir die Erklärungen nicht verstehen. Um so besser, da hilft nur probieren oder das Bild für immer auf der inneren Speisekarte zu speichern, um lebenslang vom Geschmack zu träumen. Ich weiß nicht, wohin ich zuerst schauen soll, doch bald zieht ein Napf safranfarbener Nudeln meinen Blick magisch an. Die Augen haben mehrfach ihre Runden gedreht, die gelbe Pracht wie von selbst in die Mitte genommen, weiter eingekreist bis sie wie magnetisch daran haften bleiben. Der Magen gibt unmissverständliche Laute von sich. Startschuss. Die Herrin über all die Kostbarkeiten hat schmunzelnd unsere Mienen verfolgt und freundlich nickend alle Fragen beantwortet. So weit im Norden Westbengalens sollte das auf nepali sein, aber sei es bengalisch oder hindi, auch wenn wir kein Wort verstanden haben klang das alles einleuchtend. Routiniert reißt sie zwei Seiten aus einem großen Buch und pappt das Gewählte mit bloßen Fingern darauf. Wahre Genüsse darf man nicht mit Hilfsmitteln entweihen. Schon stehe ich mit zwei Seiten feinstem Schmaus und strahle. Wenn das der Schreiberling oder der Typ an der Druckerpresse geahnt hätten! Ich spähe nach Esswerkzeug. In von Touristen frequentierten Restaurants, ist Besteck mittlerweile selbstverständlich. Hier suche ich vergebens. Das würde auch nicht zur Bretterbude passen. So kommen wir in den Genuss puren Geschmacks. Diesen erlangt man nur über die Finger. Das wird mir schlagartig klar. Der direkte Weg ist es! All die vorgeblich notwendigen Esswerkzeuge, Messer, Gabeln, Löffel, Stäbchen halten die erlesene Speise vom Körper weg. Sie verlängern unnötig den Abstand, verfälschen die Aromen, haben eine andere Temperatur und manchmal beißt man noch dazu drauf. Fürs Erste beiß` ich mir ständig in die Finger. So einfach oder gar primitiv, wie es aussieht, ist es nicht. Heißhunger ist nicht förderlich, doch schnell entwickelt sich von selbst die Kunst, Speise von den Fingerspitzen zu nippen, tippen, schlecken. Bei Nudeln mag es noch klappen. Beölte Erbsen in den Mund zu befördern erweist sich als Akt motorischer Feinarbeit. Selbst die Halswirbel sind schwer gefordert. Da heißt es, Fingerkuppen nicht anbeißen, nicht verschlucken, nicht zu viel fallen lassen und die Bäckchen nicht allzu übermäßig einzufetten. Letzten Endes sollte es vor versammelter Mannschaft auch noch so rüberkommen, als wenn man nicht zum ersten Mal Nahrung zum Munde führe.

   Während des Essens wird das weitere Angebot vorab mit Blicken verschlungen. Nach der Vorspeise wird es Ernst. Wir kauen vergnügt, die Alte freut sich mit uns. Keine Frage, es schmeckt. So wie sich das Mahl in all seinen Farben vor uns ausbreitet, diese Aneinandereihung kulinarischer Berge und Täler, konnte es einfach nicht anders sein. Manchmal mundet es bereits, obwohl noch kein Bissen zu sich genommen wurde.

   Ich esse mehrfach aus dem großen Buch. Die Seiten sind etwa zehn Minuten feuchteresistent. Die Alte ist zufrieden, solche Kundschaft wird nicht jeden Tag an ihrem Stand vorbeischauen. Mehrere mittlere Mahlzeiten für zwanzig Rupien, keine Mark, einfach beschämend. Selbst mit großzügigen Aufrunden bleibt dieses Gefühl. Wenigstens haben wir geholfen, dass die Bude nicht unter dem Gewicht erlesenster Speise zusammenbricht. Wir bedanken uns nochmals ausgiebig, sie wackelt zustimmend mit dem Kopf.

   An Kino ist nicht mehr zu denken. Wir wanken heim und beten zu Buddha. Wenn uns Tchiemi mit einem Abendmahl überraschen will wird es eng. Äußerst eng.

 

 

Kalimpong,

Bundesstaat Westbengalen

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