Gen Süden mit TÜVplus

Tchiemi überrascht mit einem Abschiedsgeschenk, zwei Portemonnaies mit je einer 50 Paisa Glücksmünze. Wir überlassen ihr unser Reiseschachspiel, dass in ihrer Pension sicher mehr Verwendung finden wird.

   Busstand Kalimpong. Auf gen Süden. Endlich Kalkutta - ein Name der bei mir tausend Bilder anknippst, sämtlich unscharf aber seit jeher verlockend.

    Zwischen vier vorsintflutlichen Gestellen blinkt ein nagelneuer Mazda. Die anderen drei Ungetüme befinden sich in bedauernswerten Zustand. Staub, Dreck, Rost, fehlende Scheiben, fahrtüchtig sieht anders aus. Von Wind, Sonne und Zeit verblasste, stumpfe Lackierungen zeugen von enormen Laufleistungen. Ich streiche vorsichtig über den Lack. Auf der Karosse ließe sich prima Fisch entschuppen. Leider habe ich keinen zur Hand.

   Von den Bussen fährt genau einer, maximal zwei, soviel steht fest. Der Rest ist seit Jahren außer Dienst gestellt und sehnt sich nach der Presse. Doch wieder einmal glaube ich vorschnell meinen Augen und laufe in die Irre. Meine Verblüffung ist enorm, als ausgerechnet das abgewrackteste Vehikel in einer Abgaswolke aufschnaubt. Unser Bus!

   Der TÜV hätte die Arbeit nach Sichtprüfung aus fünzig Metern Entfernung umgehend eingestellt, vielmehr gar nicht erst aufgenommen. Recht unüblich dürfen wir die Rucksäcke mit hineinnehmen, das Gepäck soll nicht hoch. Dafür gibt es zwei Möglichkeiten:

   1. Hoher Fahrtwind. Um die Strecke in der angegebenen Zeit zu schaffen werden wir dermaßen schnell fahren, dass nicht einmal ein Kraftmagnet sicher am Metall zu verzurren ist.

   2. Zustand des Fahrzeuges. Das Gepäck droht während der Fahrt durch das Dach zu brechen. Worauf der Boden unter dem plötzlichen Gewichtszuwachs nachgeben könnte.

   Da ich unseren Bus bereits von außen gemustert habe, tippe ich nach kurzen Rundblick auf letzeres. Die Tür hängt verdächtig schräg in den Angeln, ihr rissiges, teils zerfetztes Blech wird von sich gegenseitig haltenden Schweißnähten getragen. Dafür sind die Sitze auf den ersten Blick DeLuxe verdächtig. Das ändert natürlich alles. Wie erste Eindrücke doch täuschen. Die kleine Local-Bus-Printe ist passabler als gedacht. Sicher, nach mehrmaligen nutzen dieser Flitzer wollten wir mit derartigen nie wieder fahren. Das hatten wir uns vorgenommen, zum Ende jeder Tour, felsenfest. Aber das ist wie nach dem Rausch, nach Kopfschmerzen, Stechen hinter den Augen und Kreiselkompassgefühlen. Nie, nie wieder! Bis du doch wieder drin sitzt.

   In unserem Fall bleibt ohnehin keine Wahl. Wen man auch fragt, angeblich gäbe es nur Taxis und private Jeeps. Zu teuer, die Reisekasse macht von ihrem Vetorecht Gebrauch. Als Zeitvertreib bis zur Abfahrt gibt es, egal wo man sich momentan befindet, stets reichlich Ablenkung. Die richtige Grundstimmung bleibt Vorrausetzung. Ab und an ist jeder einfach nicht aufnahmefähig. Da wird Schildkröte gespielt, Hals eingezogen, der Kopf bleibt tagsüber im Panzer. Dieser Zustand ist selbstverständlich nicht auf dieses Land beschränkt. Zur Zeit ist das für mich zum Glück Hörensagen. Ich kann mir in Ruhe alles anschauen, Aufsaugen. Heute ist es eine Melange aus ocker, braun, schwarz in all ihren verwaschenen Grautönen. Jede weitere Farbe blitzt umso mehr hervor. Der Mazda gleicht einem eben gelandeten Raumschiff. Mittlerweile bin ich gar nicht mehr scharf darauf. Neuzeit gegen Steinzeit. Die Szene symbolisiert den Triumphzug des Farbfilms in die Schwarz-Weiße Welt. In naher Zukunft müsste es soweit sein. Das uns zugeloste Reisemobil sticht hier nicht heraus, schmiegt sich ins Umfeld. Von den Klamotten her passen wir perfekt zu ihm. Wird schon werden.

   Die Geräuschkulisse bietet neben Dauerrauschen der Straße, Hämmern, Klopfen, wildes Aufschnauben von Motoren. An allen Ecken und Enden wird geschraubt. Für die Masala aus Benzin, Abgasen, aufwirbelnden Staub und etwas Undefinierbarem über das ich nicht allzu lange grübeln möchte, ist kein Riechorgan nötig. Der Gestank ist sicht- und spürbar. Partikeldunst fährt über die Haut, kratzt in Hals und Nase, schließt die Augen. Der Platz der privaten Verkehrsgesellschaft ist mit einer außerhalb des Landes unbekannten Bitumenart belegt. Die gestampfte Mischung aus Dreck, Motoröl und Luftfeuchtigkeit repariert sich selbst. Die Atmosphäre gleicht der unmittelbar vor dem Startschuss eines Autorennens. Erneut kann ich der Versuchung nicht wiederstehen und schlendere zur Inspektion am Radkasten. Grober Fehler, langsam sollte ich es wissen. Neugier macht mit einem was es will. Ob das Profil der Reifen dem eines Formel 1 Wagens gleicht? Sogleich verlässt mich der Drang zur Weiterreise. Um dem entgegen zu wirken hilft es derartiges auszublenden, bevor sie den Geist verwirren. Nichtsdestotrotz muss ich jede staubpartikelfreie Zone nutzen und die Augen offen halten, Ablenkung finden. Mangel an Bildern herrscht nie. Die Herausforderung ist es die richtigen herauszufiltern.

   Zur Entlastung geschieht dieser Balanceakt nicht selten automatisiert. Der Beweis folgt eine Kopfdrehung später. Mitten auf der Fahrbahn hockt ein zwei Fäuste großer Wuschelhund unschlüssig zwischen vorbeifahrenden Autos. Jeden Moment könnte es ihn erwischen. Ein Nepalese kreuzt die Straße, holt weit mit dem Arm aus als steckten seine Finger in einer imaginären Bowlingkugel. Ohne das Tempo zu verringern geht er kurz vor dem Tier in die Knie, die unsichtbare Kugel schnellt davon und wird zugleich durch den Fellball ersetzt. Alles geschieht im Vorbeigehen in einer einzigen flüssigen Bewegung. Den kuschligen Winzling im Arm wiegend schlendert er weiter ohne innezuhalten. Was dem Mann neben mir nicht einmal für ein vollständiges Gähnen reicht, lässt mich mit offenem Mund dastehen. Die ist im Kasten! Da habe ich die nächste Szene, die mir der unsichtbare Filmvorführer lebenslang vorspielen wird. Warum gerade diese? Ich wüsste es selbst gern.

   Schnitt, Klappe, die nächste!

   Eine Bettlerin hält uns eine Schüssel entgegen. Ihre Hand hat keine Finger. Der Napf klemmt zwischen Stummeln und Sehnen. Auch ihre Linke ist bereits von Lepra angefressen. Mit dieser würde sie die Schüssel besser halten können aber weniger Geld einnehmen.

   Mit einem Schlag geht es los. Unsere verwitterte Bustür zerfällt beim Zuschlagen nicht etwa in 1000 Teile, auch nicht auf die Straße, sie gleitet sanft ins Schloss.

   Auf der Fahrt sehe ich erneut eine bestimmte Pflanzenart. Diese Farbe, der Blick kann nicht anders als kleben bleiben. Die Blüten erinnern an die heimischer Kugeldisteln, sind aber feiner, stachellos und tiefrot statt graublau. Zu Fuß unterwegs, habe ich vergebens nach den leuchtenden Bällen gespäht. Es gibt anscheinend Sachen, die kann man nur in Bewegung sehen, aus Bus, Zug, von der Rikscha.

 

    

   Wir überqueren den Testa und biegen auf die Bundesstraße 10, folgen dem Fluss nach Süden. Noch bleibt die Landschaft von Erhebungen, Tälern und Schluchten durchzogen. Wir rasen über dichtbewachsene Hänge. Die Straßen sind planlos um die Berge gewickelt. Blattlosen Efeuranken gleich winden sie sich durch ein Meer aus Grün. Der Dschungel muss ständig zurückgedrängt werden, damit die Fahrwege nicht verschwinden. Täglich strecken sich Senker von Seite zu Seite, Triebe schleichen über die Piste auf sich zu, um das Geflecht zu schließen, so wie Haut versucht einen Riss zu heilen. Tausende Reifen donnern die Versuche platt, Karossen zerfetzen, kürzen die Fühler. Doch man ahnt, gleich unter dem Schotter lauern mächtige Wurzeln geduldig auf ihre Chance.

   Als die ersten Rhesusaffen am Straßenrand auftauchen, werden Erinnerungen wach. Die Gedanken reisen Monate zurück. Vor dem Tunnel, auf dem Weg ins Kaschmirtal saßen ebenso dutzende Affen auf den Prellsteinen am Straßenrand, als wollten sie die Parade abnehmen. Jetzt sitzen ihre Verwandten hier, 2500 km entfernt und ziehen diesselbe Nummer ab. Den Primaten scheint hier wie dort Kontrollzwang angeboren zu sein. Sie schauen genau hin wer da durch ihr Hoheitsgebiet rauscht.

   Pause. An einen der zahlreichen Teebuden, gefertigt aus Bambusstangen und Blechen plattgerollter Fässer nehmen wir einen Milchtee. Ein alter, zerknitterter Mitreisender steht knappe fünf Minuten mit am Brettertresen. Seine tiefbraune Gesichtshaut ist ein wahres Faltengebirge, in seinen Augen liegen deutlich graue Schlieren. Die Kleidung lässt auf einen Habenichts schließen. Aber wie hat er das Busgeld zusammengekratzt und woher kann ein Bettler mehr als die üblichen paar Brocken Englisch? Er hat einen Sohn, spinnen wir, der in Kalkutta in einer Behörde arbeitet und uns liebend gern den Stempel für das neue Halbjahresvisum in den Pass knallt. Zu abwegig, wir schalten einen Gang runter. Sein Sohn hat eine gutgehende Stempelfälscherwerkstatt am Start und drückt uns für einen kleinen Obulus ... nein, ebenfalls nicht naheliegend. Genug geträumt, vielleicht kann er uns helfen in Shiliguri in den richtigen Bus umzusteigen.

   Bis dahin wird weiter auf-und-ab-geschlingert.

   Kaum dutzende Höhenmeter hinuntergerauscht bis es in den Ohren summt, schraubt sich der Bus dröhnend in die Berge und alles ist für die Katz. Und das trotz Affentempo. Genau, Affen! Überall sind Makaken auf Patrouille. Es müssen hunderte sein sein.

   Fünf davon, in einer Reihe auf einem Felsen sitzend, Hinteraffe laust seelenruhig Vorderaffe, gäben sicher ein prächtiges Foto ab. Doch heute bleibt die Kamera im Patronengurt. Heute schieße ich mit den Augen, ich hoffe nur der Speicher hält.

   Als wir am Rand halten, um entgegenkommende Fahrzeuge passieren zu lassen, schaut ein graubraunes Jungtier zu mir herauf. Direkt vom mit dem Sonnenrad bepinselten Prellstein. Den Kopf ins Genick gelegt mustert es mich, macht keine Mucks - nur große, traurige Augen. Ob Affen Touristen erkennen? Weiter.

   Wieder staune ich. Urplötzlich endet der Himalaya und Land breitet sich aus, zieht sich in die Länge. Die Faszination endet jäh. Altbekannte Schwüle schwillt durch die Fenster, kaum dass der Bus einmal steht. Sie hat auf uns gewartet, gelauert. Kein zurück, unaufhaltsam gleiten wir in die vor Hitze flimmernde Ebene. Die Bergausläufer enden mit jähen Absturz auf die flache Platte, als hätten sie jedwede Lust an der ewigen Hügelei verloren. Die Hitzeglocke wird über den Bus gestülpt und nicht mehr abgenommen. Dem kochenden Körper samt Geist wird unwiderruflich klar, der nächste Reiseabschnitt wird wieder im indischen Hochofen verbracht. Der Buspilot entpuppt sich als Fiesling vor dem Herrn, jeder Diktator will so einen Typen als Folterknecht. Um die Hitze besser wirken zu lassen fahren wir Schritttempo. Ich wünsche mir seine henkersmäßige Fahrweise zurück. Was ich natürlich ebenso schnell verfluchen würde. Doch Vollspeed passt im Grunde besser zum Charakter des Busses. Während der Fahrt bin ich seinem Wesen nähergekommen. Zwei gegensätzliche Geräusche starteten die Recherche. Nach jedem Stopp folgt auf kaum hörbares Schmatzen der schließenden der Tür ein Aufbrüllen des Motors.

Sssssst ... Roammmm!

Rennen gestartet. Dieses Gerät meistert jede Bodenwelle, bricht zur Not durch Zäune, Mauern, Häuser. Wie alt wird die Kiste sein, was erlebt haben? In Gedanken sehe ich es über die Schotterpisten Richtung Ladakh sprinten. Bei einem X-Tage-Rennen Manali-Jammu-Srinagar-Kargil-Leh-Manali blieben reihenweise Jeeps am Berghang liegen, um mit aufgerissenen Scheinwerfern zu verfolgen wie Rostie stur und unaufhaltsam vorbeibrettert. Möglicherweise handelt es sich um eine perfekt getarnte Rallytrophäe, die nur noch zum Spaß fährt und alle Tort(o)uren des Subkontinents abhakt. Rente wäre zu öde. Hierzulande ein Star würden sie in Deutschland selbst in der Schrottannahme die Nase rümpfen. Unser System ist da viel zu pingelig. Wie wäre es mit einem TÜV der Herzen? Ich habe mittlerweile vollstes Vertrauen in unser Fahrzeug und sei es in der Tat auf den ersten Blick ein Sammelsurium zusammengeklebter Ersatzteile.

   Mit jedem Halt wird dieser Glauben bestärkt. Die x-fach geschweißte Tür gleitet sanft ins Schloss, vollendet als letztes Teil ein gigantisches 3-D-Puzzle namens Local Bus. Der sogleich vor Freude aufbrüllt.

   Sssssst ... Roammmm!

    

mit TÜVplus von Kalimpong,

Bundesstaat Sikkim,

   nach Kalkutta,

Bundestaat Westbengalen

   

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Wahnsindien - Der Reiseblog

aus der Zeit, als es

noch keine Reiseblogs gab 

von Volker Dittrich